
Alexander Bödeker erinnert sich noch genau an jenes Gespräch mit einem Inhaftierten in der Justizvollzugsanstalt Werl: „Er sagte zu mir: ‚Ihr da draußen haltet uns doch alle für Monster‘“, erzählt Bödeker am Freitagnachmittag in Wuppertal. Das Gespräch mit dem verurteilten Straftäter ließ ihn nicht los. Jedes Mal, wenn er heute als Ehrenamtlicher in der Straffälligenhilfe durch die Gefängnistore geht, dann hat er die Erinnerung im Gepäck. Und die Einsicht: „Es gibt immer verschiedene Perspektiven.“ Alexander Bödeker versucht, möglichst viele von ihnen zu verstehen. Er hört zu, erfährt von tragischen Lebensgeschichten und Verbrechen, er hört von Menschen und Urteilssprüchen.
Weil dem jungen Werler, der als Theologiestudent die Arbeit als Ehrenamtlicher in der Straffälligenhilfe aufgenommen hat, die verschiedenen Perspektiven so wichtig sind, hat er sich auch auf den Weg zur Fachtagung nach Wuppertal gemacht. Einmal im Jahr lädt die Landeskoordinierungsstelle für das Ehrenamt in der Straffälligenhilfe NRW bei der Diakonie RWL zu der Veranstaltung ein: Ehrenamtliche genauso wie Hauptamtliche. In diesem Jahr steht der Perspektivwechsel sogar ganz offiziell auf der Tagesordnung: „Alle unter einem Dach – Lebenswelten im Justizvollzug“ lautet der Titel. Rolf Stieber, evangelischer Gefängnisseelsorger im Ruhestand, ist am ersten Tag als Referent zu Gast und liest aus seinem Buch: „Lebenslänglich. Begegnung auf Seelenhöhe“. Er soll den Inhaftierten, die aus organisatorischen und sicherheitstechnischen Gründen nicht selbst an der Fachtagung teilnehmen können, ein Sprachrohr geben. Und er macht seine Sache gut: Eindrucksvoll gibt er den Gästen der Fachtagung Einblicke in die Lebenswelten von Inhaftierten. Er erzählt aus den Lebensgeschichten der Menschen, denen er über die vielen Jahre seines Wirkens hinter Gittern begegnet ist. Und er öffnet damit auch den erfahrenen Haupt- und Ehrenamtlichen berührende Einsichten. Auch die anschließenden Workshops widmen sich dann vor allem den verschiedenen Lebenswelten in Gefängnissen und der Möglichkeit, sich diese Lebenswelten in der Arbeit nutzbar zu machen. Gleichzeitig kommen Haupt- und Ehrenamtliche ins Gespräch.
„Diese Tagung bietet einen Raum für Begegnungen von Haupt- und Ehrenamtlichen und für die Reflexion der jeweiligen Arbeit und Betätigung im Justizvollzug NRW“, erklärt dann auch Heike Moerland von der Landeskoordinierungsstelle für das Ehrenamt in der Straffälligenhilfe NRW bei der Diakonie RWL. „Losgelöst vom Anstaltsalltag können hier gemeinsam Schnittstellen der Arbeit besprochen, gute Beispiele geteilt und Probleme angesprochen werden“, weiß sie. Auch der informelle Austausch am Abend trage dazu bei, dass das Verständnis füreinander gestärkt werde. Diesen Eindruck teilen auch zwei Mitarbeiterinnen des Sozialdienstes einer Justizvollzugsanstalt: „Wir haben im Alltag meistens per Mail mit den Ehrenamtlichen zu tun“, erzählt eine von ihnen. Die Fachtagung sei eine gute Möglichkeit, sich persönlich auszutauschen und besser kennenzulernen. Denn es gebe durchaus Gesprächsbedarf. „Es ist gut, wenn wir immer mal wieder gemeinsam um Verständnis füreinander werben“, sagen die beiden Sozialarbeiterinnen. Denn vor allem dann, wenn Ehrenamtliche an die Grenzen des Systems stoßen würden, könne Missmut entstehen. „Das liegt dann nicht an uns. Das liegt daran, dass es für das Leben in der JVA eben Grenzen gibt“, erklären die beiden Frauen.
Gelegentlich gibt es auch Situationen, in denen sich der Sozialdienst in den Justizvollzugsanstalten den kurzen Draht zu Ehrenamtlichen wünschen. „Dann ist es gut, wenn ich ein Gesicht vor Augen habe und einfach den Hörer abnehmen und wählen kann“, sagt eine der beiden Frauen und freut sich auf die Begegnungen mit Ehrenamtlichen während der Fachtagung.
Dabei trifft sie auf offene Ohren. Denn auch die Ehrenamtlichen zeigen während der Tagung großes Interesse am Perspektivwechsel. „Wir sind auch hier, um die Chance der Begegnung zwischen Haupt- und Ehrenamt zu nutzen“, sagt etwa Claudia Hermsen, die ebenfalls in der JVA in Werl ehrenamtlich im Einsatz ist. Seit vielen Jahren ist sie in der Straffälligenhilfe im Einsatz – in verschiedenen Gremien und Vereinen. „Hier bei der Tagung treffen wir uns noch mal in einem anderen Zusammenhang“, sagt Claudia Hermsen und freut sich auf den Austausch – auch mit den anderen Ehrenamtlichen aus Nordrhein-Westfalen.
Am Abend richtet Caroline Ströttchen, Leiterin der Abteilung IV im Ministerium der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, den Tagungsteilnehmern die Grüße des Ministers aus. Die Teilnehmenden nutzen intensiv die Möglichkeit, Fragen zu aktuellen Themen des Justizministeriums zu stellen. Und am zweiten Tagungstag findet dann ein erneuter Perspektivwechsel statt: Joachim Furche aus dem Sozialdienst im Justizvollzug startet mit Wahrnehmungsübungen und lädt die Teilnehmenden zu einer Gedankenreise in eine Justizvollzugsanstalt ein, um die Perspektive des Inhaftierten Georg einzunehmen – eine gute Erfahrung für Ehren- und Hauptamtliche.
Alexander Bödeker jedenfalls kehrt motiviert in sein Ehrenamt nach Werl zurück – und mit dem Wissen, das viele Akteure in der Straffälligenhilfe immer wieder den Perspektivwechsel wagen.